29.5.05

Gerechtigkeit für Wehrmachtsdeserteure

Der aus dem BZÖ ausgetretene ehemals freiheitliche Bundesrats-Mandatar Siegfried Kampl zeigt von Einsicht keine Spur. Sein Verbleib im Bundesrat und der die anstehende Übernahme des Vorsitzes in der Länderkammer dürfen aber nicht den Blick auf das eigentliche Problem verstellen. Denn mit Kampl oder ohne: Wehrmachtsdeserteuren geschieht weiter Unrecht. Also schrieb ich im Standard:
Bitte, bitte nicht noch eine Blamage durch den falschen Umgang mit der Geschichte der Nazizeit! Aber was helfen Bitten und Mahnungen? Was helfen Bekundungen der Bestürztheit und gute Ratschläge wie der, dass die Bundesregierung wegen eines Gurktaler Bauern zurücktreten soll?
Nichts helfen sie, im Gegenteil: Der jahrelang nur in der eigenen Heimat bekannte Bundesrat Siegfried Kampl scheint es richtig gehend zu genießen, dass er jetzt in den Schlagzeilen steht, dass sein Verbleib im Bundesrat und seine (sonst völlig unbedeutende) Übernahme des Vorsitzes zum Top-Thema geworden ist.
Von Einsicht keine Spur. Er glaubt - und behauptet - weiter, dass Deserteure aus der Deutschen Wehrmacht "teilweise" Kameradenmörder gewesen sind. Er glaubt wohl auch weiter, dass die Nazis nach 1945 zu Unrecht verfolgt wurden - jedenfalls jene, die er kennt; und das dürften etliche sein. Man wird nicht falsch liegen, dass einige derjenigen, die ihm (nach seinem Bekunden in einem
STANDARD-Interview) "Rückhalt" angeboten haben, diesem dem Nationalsozialismus verbundenen Bekanntenkreis zuzurechnen sind oder ihn sogar erweitert haben.
Es gibt genügend Leute, die Herrn Kampl Recht zu geben bereit sind. Obwohl historisch erwiesen ist, dass nur in verschwindend wenigen Fällen Wehrmachtsdeserteure die Waffe gegen eigene Kameraden gerichtet haben; obwohl historisch erwiesen ist, dass die Entnazifizierung generell eher zu lax betrieben wurde und nur höchst ausnahmsweise die Falschen getroffen hat. Es gibt eben Menschen, die ihr Weltbild gerne an jenen Einzelfällen festmachen wollen, die Kampl als Referenz angibt. Solche Einzelfälle mögen in der akademischen Diskussion interessant sein - wenn sie von Politikern aufgeblasen werden, führen sie zu einer Verharmlosung des Nationalsozialismus und vermitteln ein völlig falsches Bild.
Mit diesem Bild wird Österreich nun leben müssen - solange der Kärntner Landtag nicht neu gewählt wird und danach neue Bundesräte entsendet. Dafür gibt es allerdings keine Anzeichen. Auch nicht dafür, dass man sich vornehmen würde, Bundesräte künftig ein bisschen besser auf ihre politischen Haltungen abzuklopfen.
Dass Herr Kampl offenbar nicht daran gehindert werden kann, den Vorsitz des Bundesrats zu übernehmen, ist eine Sache. Eine, die schlimm genug ist. Aber anstatt Kampl und seine Bewunderer durch fruchtlose Debatten auch noch aufzuwerten, könnte man zum Ausgangspunkt der unseligen Sache zurückkehren: Da stand die Sache mit den Wehrmachtsdeserteuren, die auch 60 Jahre nach dem Krieg keine Anerkennung gefunden haben - weder im Pensionsrecht noch durch offizielle Ehrung.
Entsprechende Anträge der Grünen sind serienweise gescheitert. Ein Antrag der Koalitionsparteien wurde dem Justizausschuss zugeleitet, wo es vorläufig einmal Abwarten heißt: Ohne gleichzeitige Ehrung der Trümmerfrauen gibt es nach der Logik der Regierungsparteien auch keine Rehabilitierung jener Männer, die bei Hitlers Krieg nicht mehr mitmachen wollten und aus seinen Truppen davongelaufen sind.
Diese Deserteure wurden über Jahrzehnte in unseligem Weiterwirken der NS-Propaganda vor allem als Feiglinge gesehen, die die Frauen und Kinder in der Heimat nicht verteidigen wollten - sie wurden verachtet, während Angehörige von Wehrmacht und Waffen-SS weiterhin als Helden galten.
Dies ist ohnehin nicht mehr gutzumachen. Aber man kann jetzt ein Zeichen setzen.
Man kann unverzüglich zeigen, dass die Republik - mit der Ausnahme unverbesserlicher Kampl-Fans - die Wehrmachtsdeserteure eben anders beurteilt als Herr Kampl: Man müsste bloß den Wehrmachtsdeserteuren die lange vorenthaltene Anerkennung gewähren. Das würde nichts daran ändern, dass ein ungeeigneter Mann den Vorsitz im Bundesrat führt. Aber es würde vor aller Welt belegen, dass er eben nicht Recht hat.
(DER STANDARD, Printausgabe, 30.5.2005)

27.5.05

Politiker - Bescheiden auf Regimentsunkosten

Ein bisschen Schadenfreude dürfte schon aufkommen, wenn jetzt überprüft wird, welche Spesen die ehemalige FPÖ-Chefin Susanne Riess-Passer in ihrer Amtszeit gemacht hat. Mag sein, dass da alles rechtlich korrekt abgelaufen ist - die Unschuldsvermutung gilt da sowieso. Aber dass da jetzt im Detail aufgerollt wird, welche teuren Accessoires (deren Notwendigkeit der "kleine Mann" kaum verstehen kann) auf Regimentsunkosten für die jeweiligen Parteichefs beschafft wurden, ist doch recht peinlich.
Die unangenehmen Fragen, denen sich die Ex-Vizekanzlerin jetzt stellen muss, verweisen auf ein Grundproblem populistischer Politik: Dem Wahlvolk wird weisgemacht, dass alles viel, viel billiger ginge, wenn man nur die rechten Leute ranließe - und wenn diese dann merken, dass sich die Versprechen in der Praxis nicht ausgehen, werden alle möglichen Tricks angewendet, um die gute Optik zu erhalten.
So wurde den Österreichern erklärt, dass die Gefolgschaft von Jörg Haider sich mit 60.000 Schilling (später auf 66.000 Schilling oder knapp 4800 Euro erhöht) pro Monat aus öffentlichen Kassen begnügen würde. Dass sich für Berufspolitiker da kein Luxus ausgehen würde, war jedem klar - dass allerdings etliche Aufwendungen, darunter auch durchaus luxuriöse, aus der Parteikasse gezahlt würden, war kaum jemandem bewusst.
Nicht, dass es falsch wäre, Spitzenfunktionären ein standesgemäßes Auftreten auf Parteikosten zu ermöglichen. Aber gleichzeitig so zu tun, als ob das alles trotz bescheidenen Verzichts auf die gesetzlich vorgesehenen Politikereinkommen möglich wäre, ist eine Täuschung der Wähler. Jetzt schnappt die selbst aufgestellte Bescheidenheitsfalle eben bei der ehemaligen FPÖ-Spitze zu. (DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.5.2005)

24.5.05

Das Bundesheer wird schleichend zu einem Berufsheer umgebaut

"Die Bundesregierung hat eine wichtige Entscheidung für ein schlankes, effizientes und professionelles Bundesheer getroffen", sagte Verteidigungsminister Günther Platter heute nach dem Ministerrat. Was bleibt da eigentlich noch übrig vom Bundesheer, wie es eineinhalb Millionen Österreicher in jungen Jahren durchlaufen haben?
Im Standard bin ich dieser Frage nachgegangen und zu folgendem Schluss gekommen: "Der Name und ein paar Rituale, viel mehr nicht."
Das ist so wenig, dass sich selbst der Grüne Peter Pilz Sorgen macht, ob sein jahrzehntelanges Lieblingsfeindbild überhaupt noch den Vorgaben der Verfassung entspricht. Diese sieht in iherem Artikel 9a vor, dass sich die österreichische Landesverteidigung auf vier Säulen stützen soll - aber die wirtschaftliche, zivile oder gar die geistige Landesverteidigung sind nie so wichtig genommen worden wie die militärische. Seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes schon gar nicht mehr - weshalb der Österreich-Konvent ziemlich einhellig zur Auffassung gekommen ist, dass die so genannte "Umfassende Landesverteidigung" am besten aus der Verfassung gestrichen werden sollte. Wobei man natürlich dazu sagen muss, dass die militärische Landesverteidigung von der österreichischen Politik auch nur selten so behandelt wurde, wie man ein Heer behandelt, das man im Ernstfall ins Gefecht schicken würde. Aber an gewisse - in der Verfassung festgeschriebene - Grundsätze hat man sich in der Praxis eben doch gehalten: dass das Heer durch Wehrpflichtige - und nicht durch auf dem Arbeitsmarkt angeworbene Berufssoldaten - ergänzt werden muss; dass diese Wehrpflichtigen zu kriegstauglichen Soldaten auszubilden sind - und nicht nur für Hilfsdienste oder bestenfalls als Wache; und dass das Bundesheer grundsätzlich milizartig strukturiert sein muss - dass also im Einsatz auf allen Ebenen Soldaten herangezogen werden, die im Normalfall in einem Zivilberuf arbeiten und nebenbei in mehr oder weniger regelmäßigen militärischen Übungen ihre soldatische Laufbahn aufbauen. Dieses Milizprinzip - vom damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky gefordert und vom langjährigen Armeekommandanten Emil Spannocchi umgesetzt - war einigen verbohrten Militärschädeln nie so ganz geheuer: Da standen plötzlich Zivilisten in Uniform da, die alles besser zu wissen glaubten - und es gelegentlich wirklich besser wussten. Tröstlich war daran für das militärische Establishment allenfalls, dass dieses System eine Armee von beachtlicher Größe unter sein Kommando brachte. Bis zu 240.000 Mann (wenn auch nicht besonders gut ausgerüstet) hätte das kleine Österreich aufzubieten gehabt, wenn der Kalte Krieg heiß zu werden gedroht hätte. Von all dem bleiben jetzt Streitkräfte von 55.000 Soldatinnen und Soldaten - wobei allen klar ist, dass eine sechsmonatige Grundausbildung ohne Truppenübungen keinen feldverwendungsfähigen Nachwuchs liefern kann. Also wird "professionalisiert" - zu Deutsch: Es wird auf ein Berufsheer umgestellt, in dem eben auch ein paar junge Leute dabei sind, die aus irgendwelchen Gründen nicht den Weg zum Zivildienst gefunden haben. Zum Füllen von Sandsäcken bei Katastrophen werden diese Rekruten schon brauchbar sein - wenn man sie im Katastrophenfall überhaupt in ein Einsatzgebiet bringen kann. Denn das geschrumpfte Heer wird in vielen Regionen gar nicht mehr präsent sein. Militärisch wichtig aber ist, dass diese Rekruten Lust bekommen, ins "richtige" Bundesheer zu wechseln - sich also für Funktionen in der Miliz oder gar als Berufssoldaten zu verpflichten. Mit einer derartigen "Schnupper"-Ausbildung kann sich das Bundesheer immerhin eine halbwegs breite Rekrutierungsbasis erhalten - aber ein richtiges Wehrpflichtigenheer ist es dann nicht mehr. Sondern ein Freiwilligenheer, das erst einmal beweisen wird müssen, dass seine Einsatzstruktur tatsächlich milizartig ist und nicht einem Berufsheer entspricht. Aber vielleicht sind die jetzt von der Regierung vorgelegten Bausteine ohnehin nur für eine Übergangslösung gedacht - und wenn diese erst einmal unumkehrbar ist, wird in der Verfassung festgeschrieben, dass Österreichs Bundesheer ein Berufsheer mit Milizkomponenten ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.5.2005)

18.5.05

Seelsorge ohne Orientierung

Ist es nicht so? Im Religionsunterricht an österreichischen Schulen wird über alles Mögliche gesprochen. Über so grundsätzlich wichtige Dinge wie Toleranz und Frieden, über die Sorgen junger Menschen und über Gott und die Welt. Genauer: Mehr über die Welt als über Gott.
Das ist nicht ganz neu. Es ist schon vor mehr als 20 Jahren dem damaligen apostolischen Nuntius Mario Cagna aufgefallen - und er hat es in einem 20-seitigen Schreiben an den Heiligen Stuhl festgehalten: "Viele Eltern beklagen sich darüber, dass in denUnterrichtsstunden in den Schulen über alles geredet und diskutiertwird, 'nur nicht über Religion'. In der Tat kann man einekulturell-religiöse Leere feststellen, die diese Pädagogik bei denJugendlichen hinterlassen hat. Diese (Leere) wird nicht nur an dentheologischen Fakultäten, sondern auch in den pädagogischen Akademiender Diözesen gelehrt."
Der Text ist am Mittwoch im ORF-Morgenjournal verlesen worden - gerade fünf Stunden bevor der Rücktritt des Sozialbischofs Maximilian Aichern bekannt gegeben wurde. Dabei ist er (auf Italienisch) längst bekannt gewesen.
Immerhin wirft er ein bezeichnendes Licht auf das wahre Bild, das in Rom von der liberalen österreichischen Kirche in der Ära des hoch geschätzten und (hierzulande) sogar für "papabile" gehaltenen Kardinals Franz König gezeichnet wurde: "Von allen Bischöfen, ohneAusnahme, kann man sagen, dass sie persönlich fromm, ehrlich,fleißig, orthodox und hingebungsvoll in der Ausübung ihrer Ämtersind; sie politisieren nicht und sind fern von Extremismen jeglicherArt. Von allen kann man aber auch sagen, dass sie zu vorsichtig undfurchtsam vor den Theologen, den Pastoralgremien, den Journalistenund vor der Öffentlichen Meinung sind. Daher zeigen sie nur seltenFestigkeit in ihren Standpunkten und verfallen in Permissivität... Wenn man die aktuelle Situation betrachtet, dann darf man sichkeine Illusionen über eine rasche Genesung machen. Es wird Jahrebrauchen sowie mutige und heilige Bischöfe, die mit Vorsicht, aberEntschiedenheit und ohne Zögern die Strukturen und Personenverändern, die Seminare beleben, den guten Priestern Mut zusprechen,die schwachen und vom Weg abgekommenen Priester korrigieren, dieBürokratie abbauen, die mit Beständigkeit die gute Doktrin predigenund überall die Identifikation mit dem Papst und seinem Lehramtstärken."
Ich habe dazu im Standard folgenden Kommentar - unter dem Titel "Es ist schwer, zu glauben" - geschrieben:
"Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde." Den ersten Satz des Credo werden die meisten, die sich in Österreich als Katholiken definieren, wohl noch mittragen. Allerdings: Ist ein so klar männlich definierter Gott überhaupt zeitgemäß? Würde man nicht aus heutiger Sicht ein genderneutrales Gottesbild bevorzugen? Außerdem ist ja uns aufgeklärten Menschen die Schöpfungsgeschichte - rein wissenschaftlich betrachtet - suspekt.
Und erst recht, wie es dann weitergeht mit den Bekenntnissen: Der Glaube an Jesus Christus, "empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria", "gekreuzigt, gestorben und begraben" - das wörtlich zu glauben fällt vielen schwer, erst recht das Bekenntnis zur "Auferstehung des Fleisches" (oder, wie man jetzt betet: "der Toten").
Schwer zu glauben.
Aber die Lehren der Religion zu glauben war wahrscheinlich immer schwierig, auch als man über Leben und Tod noch nicht so viel zu wissen vermeint hat wie heute.
Nur haben die Kirchen, bei uns eben die vorherrschende römisch-katholische Kirche, das Mysterium des Glaubens in früheren Zeiten offenbar besser erklären können. Weil die Verkünder des Glaubens mit ihrer jenseitsorientierten Botschaft immer weniger gehört wurden, haben sie sich in den letzten Jahrzehnten da^rauf verlegt, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind.
Maximilian Aichern, der jetzt mit 73 Jahren in eine Art pastorale Frühpension geschickt wurde, ist ein vorbildliches Beispiel dafür: Er scheute sich nicht, mit Gewerkschaftern eine Front zur Erhaltung der Sonntagsruhe zu bilden, er nahm die Sorgen der Menschen um Arbeit und Lebensunterhalt ernst und mahnte die Politik, nicht nur den Geldwert der von den Menschen erwirtschafteten Werte zu sehen.
Das ist gut und schön und wahrscheinlich auch gottgefällig - es entspricht jedenfalls dem, was der verstorbene Papst Johannes Paul II. gepredigt und vorgelebt hat. Aber es fehlt bei all dem sozialen Engagement eben doch etwas: nämlich der Bezug zum Jenseits. Einer Kirche, die die Caritas lebt, aber den Glauben nicht wirksam verkündet und gegen Zweifler verteidigt, geht über kurz oder lang die Existenzberechtigung verloren.
Lange hat man das in Österreich überspielt. Man hat Kardinal Franz König verehrt, der so menschlich über die Sorgen der Österreicher sprechen konnte; der so selten gemahnt und so oft ermuntert hat. In dem ausgerechnet am Tag des Rücktritts von Aichern in Österreich bekannt gewordenen (aber schon vor zwei Jahren auf Italienisch veröffentlichten) Bericht des seinerzeitigen apostolischen Nuntius Mario Cagna über die Situation der Kirche vor 1985 steht ganz klar, was in jener Zeit aus römischer Sicht versäumt wurde: die Doktrin hochzuhalten und für die Religion zu kämpfen - auch gegen die Lauen in den eigenen Reihen.
Die römische Kur war radikal: Mystiker und Dogmatiker wurden auf Bischofssitze gehievt, auf denen vorher verbindlich-freundliche und vor allem sozial engagierte Seelsorger gesessen waren. Vor den Seelsorgern der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil brauchte keiner davonzulaufen, so harmlos waren sie. So sind die Menschen geblieben, wenn auch ohne inneres oder gar äußeres Glaubensbekenntnis. Die neuen Kirchenherren aber konnten diese Taufscheinkatholiken nicht mehr in der Kirche halten.
Mit der Offenheit war es rasch vorbei. Aber die wiederentdeckte Mystik, die jenseitigen Versprechungen, die Liebe zur Gottesmutter und der inflationär wachsenden Gemeinschaft der Heiligen konnte nur eine Minderheit begeistern. Die Skandale der Kirche waren für viele nur der letzte Anstoß auszutreten.
Der wahre Grund, warum die Menschen die Kirche verlassen, liegt darin, dass die Kirche die Orientierung, die sie geben will, nicht vermitteln kann. Ja, es ist schwer, zu glauben - und die Kirche muss rasch bessere Wege und geeignetere Menschen finden, den Glauben zu vermitteln.
(DER STANDARD, Printausgabe, 19.5.2005)

1.5.05

Marktwirtschaftliche Nachhilfe

Zu meiner wöchentlichen Lektüre gehört unter anderem die Raiffeisenzeitung - nicht wegen der rührend altmodischen Witze. Diese Woche konnte man unter anderem lesen: "Ein Delinquent wird vom Pfarrer zum Galgen beglei­tet. Es regnet in Strömen, der Pfarrer hält den Schirm. Gefangener: „So ein Sau­wetter, Herr Pfarrer ..." Pfarrer: „Sie haben's gut, Sie müssen nur hin - ich muss auch wieder zurück."" Oder etwas frauenfeindlich: "Fragt ein Kollege den anderen: „Warum bist du denn so gut aufgelegt, Mar­kus?" „Heute habe ich end­lich für meine Frau einen blauen Papagei bekom­men", antwortet dieser. Der Kollege: „Ehrlich, das nen­ne ich einen guten Tausch!"" Und den versteckten Antisemitismus im letzten der Witze will ich mir hier lieber ganz ersparen - wer unbedingt darüber lachen will, findet dergleichen mühelos im Internet.
Wie gesagt, ich lese die Raiffeisenzeitung nicht wegen dieser gelegentlich anachronistisch wirkenden "Humor"-Rubrik. Auch nicht wegen der Rezepte (auch wenn das eine oder andere ganz lecker klingt), der endlosen genossenschaftlichen Interna oder wegen des wöchentlichen, stets an sportliche Marschierer gerichteten Wandertipps von Matthäus Kattinger.
Sondern deshalb, was Matthäus Kattinger jede Woche unter "Aufgespießt" zum Besten gibt: Das ist Österreichs wahrscheinlich beste rechtsliberale Wirtschaftskolumne.
Diese Woche - in der Ausgabe 17/2005 vom 28. April - rechnet er mit der Gemächlichkeit der immer noch sozialpartnerschaftlich geprägten Wirtschaftspolitik in Wien ab - mit Hinweis auf das nahe Bratislava, wo die Uhren ganz anders gehen: "Bisher retteten sich die Vertreter der Kreidefresser, ignoranten und Besitzstands­wahrer in diesem Lande - also vorrangig der Sozialpartner und eines Großteils der Poli­tiker - in die Schutzbehaup­tung, dass das Einzige, was wir „von denen“ fürchten müss­ten, ihre niedrigen Löhne und die geringen Sozialleistungen wären, dass die Arbeiter dort quasi unlauteren Wettbewerb, also Lohn- und Sozialdum­ping, betrieben. Weshalb die Sozialpartner im Zuge des Beitritts der Reformstaaten so intensiv um lange Übergangs­fristen für wanderungswillige Arbeitnehmer und jetzt um die Verhinderung der EU-Dienst­leistungs-Richtlinie gerungen haben." Ich glaube - mit Kattinger - dass die Dynamik der Nachbarregionen massiv unterschätzt wird.
"Ein großer Teil der Arbeitnehmer ist nicht nur gut ausgebildet, sondern vor allem hungrig nach Erfolg, nach Aufstieg, nach dem, was man „im Westen“ gesehen hat. Sie denken nicht zuallererst an soziale Absicherung, an gewerkschaftliche Sonder­rechte, sondern sie wollen „nach oben“. Sie wollen nicht verhindern, sondern schaffen, gestalten und verdienen. Sie sehen nicht zuerst die Risiken, sondern vor allem einmal die Chancen.
Dem gegenüber stehen die meisten Länder der Alt-EU mit Deutschland und Frankreich an der Spitze, die österreichi­schen Sozialpartner nicht weit dahinter. Sie wollen nicht wahrhaben, was um sie her­um vorgeht, und ignorieren zwei der ältesten Gesetzmä­ßigkeiten im Wettbewerb."
Nämlich: "Es ist leichter nach oben zu kom­men, als sich an der Spitze zu halten. Wer oben ange­kommen ist, will sich feiern, konsolidieren, ausruhen-und vergisst, dass schon ande­re zum Gipfelsturm blasen. Richtschnur dabei sind aber nicht die eigenen Erfolge der Vergangenheit, sondern das, was die (hungrigen) Wölfe, was der Wettbewerb imstande ist, zu leisten.
Der zweite Denkfehler, den Österreich, Deutschland, Frankreich und die anderen machen, ist, dass sie glauben, es hänge von ihnen ab, wie sich Ungarn, die Slowakei, Tschechien oder die baltischen Staaten wirtschaftlich entwi­ckeln. Sie glauben, dass sie das Gesetz des Handelns auch der Konkurrenten bestimmen (bzw. blockieren) können.Das beste Beispiel liefert wohl die Diskussion um den angeblichen Wettlauf bei Un­ternehmenssteuern. Nicht die Reformstaaten haben mutwil­lig einen Steuerwettlauf nach unten vom Zaun gebrochen, sie haben ihr Steuersystem ihren wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen angepasst. Da ihr Sozialsystem, ihr staatlicher Apparat, nicht so aufwendig ist, können sie auch mit we­niger Einnahmen auskommen."
Noch dazu habe die Flat Tax in der Slowakei gar nicht zu niedrigeren, sondern zu höheren Steuereinnahmen geführt, rechnet Kattinger vor - und mahnt: "Jetzt heißt es schleunigst auf die Offensive der Reformstaaten zu reagieren... Man könnte fast glauben, in Arbeiterkammer, Gewerkschaft und Wirtschaftskammer säßen auf den höchsten Positionen Ostagenten, die uns einlullen wollen. So wie der Großteil der europäischen Industrie­staaten sich verhält, wird es immer wahrscheinlicher, dass nach dem vom amerikani­schen Politikwissenschafter Francis Fukuyama nach dem Fall des Eisernen Vorhan­ges ausgerufenen „Ende der Geschichte“ (also dem Sieg des Kapitalismus über den sich selbst ausschaltenden Staatssozialismus) als quasi Überschmäh der neue Ost­Kapitalismus (oder wie es die politisch Korrekten bezeich­nen: der Neoliberalismus) über den Staatssozialismus westeuropäischer Prägung triumphiert. Das wäre dann der wahre, für den Westen gleichsam schmerzvolle wie blamable Treppenwitz der Weltgeschichte."