1.5.05

Marktwirtschaftliche Nachhilfe

Zu meiner wöchentlichen Lektüre gehört unter anderem die Raiffeisenzeitung - nicht wegen der rührend altmodischen Witze. Diese Woche konnte man unter anderem lesen: "Ein Delinquent wird vom Pfarrer zum Galgen beglei­tet. Es regnet in Strömen, der Pfarrer hält den Schirm. Gefangener: „So ein Sau­wetter, Herr Pfarrer ..." Pfarrer: „Sie haben's gut, Sie müssen nur hin - ich muss auch wieder zurück."" Oder etwas frauenfeindlich: "Fragt ein Kollege den anderen: „Warum bist du denn so gut aufgelegt, Mar­kus?" „Heute habe ich end­lich für meine Frau einen blauen Papagei bekom­men", antwortet dieser. Der Kollege: „Ehrlich, das nen­ne ich einen guten Tausch!"" Und den versteckten Antisemitismus im letzten der Witze will ich mir hier lieber ganz ersparen - wer unbedingt darüber lachen will, findet dergleichen mühelos im Internet.
Wie gesagt, ich lese die Raiffeisenzeitung nicht wegen dieser gelegentlich anachronistisch wirkenden "Humor"-Rubrik. Auch nicht wegen der Rezepte (auch wenn das eine oder andere ganz lecker klingt), der endlosen genossenschaftlichen Interna oder wegen des wöchentlichen, stets an sportliche Marschierer gerichteten Wandertipps von Matthäus Kattinger.
Sondern deshalb, was Matthäus Kattinger jede Woche unter "Aufgespießt" zum Besten gibt: Das ist Österreichs wahrscheinlich beste rechtsliberale Wirtschaftskolumne.
Diese Woche - in der Ausgabe 17/2005 vom 28. April - rechnet er mit der Gemächlichkeit der immer noch sozialpartnerschaftlich geprägten Wirtschaftspolitik in Wien ab - mit Hinweis auf das nahe Bratislava, wo die Uhren ganz anders gehen: "Bisher retteten sich die Vertreter der Kreidefresser, ignoranten und Besitzstands­wahrer in diesem Lande - also vorrangig der Sozialpartner und eines Großteils der Poli­tiker - in die Schutzbehaup­tung, dass das Einzige, was wir „von denen“ fürchten müss­ten, ihre niedrigen Löhne und die geringen Sozialleistungen wären, dass die Arbeiter dort quasi unlauteren Wettbewerb, also Lohn- und Sozialdum­ping, betrieben. Weshalb die Sozialpartner im Zuge des Beitritts der Reformstaaten so intensiv um lange Übergangs­fristen für wanderungswillige Arbeitnehmer und jetzt um die Verhinderung der EU-Dienst­leistungs-Richtlinie gerungen haben." Ich glaube - mit Kattinger - dass die Dynamik der Nachbarregionen massiv unterschätzt wird.
"Ein großer Teil der Arbeitnehmer ist nicht nur gut ausgebildet, sondern vor allem hungrig nach Erfolg, nach Aufstieg, nach dem, was man „im Westen“ gesehen hat. Sie denken nicht zuallererst an soziale Absicherung, an gewerkschaftliche Sonder­rechte, sondern sie wollen „nach oben“. Sie wollen nicht verhindern, sondern schaffen, gestalten und verdienen. Sie sehen nicht zuerst die Risiken, sondern vor allem einmal die Chancen.
Dem gegenüber stehen die meisten Länder der Alt-EU mit Deutschland und Frankreich an der Spitze, die österreichi­schen Sozialpartner nicht weit dahinter. Sie wollen nicht wahrhaben, was um sie her­um vorgeht, und ignorieren zwei der ältesten Gesetzmä­ßigkeiten im Wettbewerb."
Nämlich: "Es ist leichter nach oben zu kom­men, als sich an der Spitze zu halten. Wer oben ange­kommen ist, will sich feiern, konsolidieren, ausruhen-und vergisst, dass schon ande­re zum Gipfelsturm blasen. Richtschnur dabei sind aber nicht die eigenen Erfolge der Vergangenheit, sondern das, was die (hungrigen) Wölfe, was der Wettbewerb imstande ist, zu leisten.
Der zweite Denkfehler, den Österreich, Deutschland, Frankreich und die anderen machen, ist, dass sie glauben, es hänge von ihnen ab, wie sich Ungarn, die Slowakei, Tschechien oder die baltischen Staaten wirtschaftlich entwi­ckeln. Sie glauben, dass sie das Gesetz des Handelns auch der Konkurrenten bestimmen (bzw. blockieren) können.Das beste Beispiel liefert wohl die Diskussion um den angeblichen Wettlauf bei Un­ternehmenssteuern. Nicht die Reformstaaten haben mutwil­lig einen Steuerwettlauf nach unten vom Zaun gebrochen, sie haben ihr Steuersystem ihren wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen angepasst. Da ihr Sozialsystem, ihr staatlicher Apparat, nicht so aufwendig ist, können sie auch mit we­niger Einnahmen auskommen."
Noch dazu habe die Flat Tax in der Slowakei gar nicht zu niedrigeren, sondern zu höheren Steuereinnahmen geführt, rechnet Kattinger vor - und mahnt: "Jetzt heißt es schleunigst auf die Offensive der Reformstaaten zu reagieren... Man könnte fast glauben, in Arbeiterkammer, Gewerkschaft und Wirtschaftskammer säßen auf den höchsten Positionen Ostagenten, die uns einlullen wollen. So wie der Großteil der europäischen Industrie­staaten sich verhält, wird es immer wahrscheinlicher, dass nach dem vom amerikani­schen Politikwissenschafter Francis Fukuyama nach dem Fall des Eisernen Vorhan­ges ausgerufenen „Ende der Geschichte“ (also dem Sieg des Kapitalismus über den sich selbst ausschaltenden Staatssozialismus) als quasi Überschmäh der neue Ost­Kapitalismus (oder wie es die politisch Korrekten bezeich­nen: der Neoliberalismus) über den Staatssozialismus westeuropäischer Prägung triumphiert. Das wäre dann der wahre, für den Westen gleichsam schmerzvolle wie blamable Treppenwitz der Weltgeschichte."