2.10.11

Die ÖVP wird in der Gerechtigkeitsdebatte getrieben

Wenn die ÖVP einen Kurswechsel vollzieht, dann passiert das immer schön gemächlich. Man will ja niemanden verschrecken, schon gar nicht das Kapital, das konservativem Jägerlatein zufolge "scheu ist wie ein Reh". Also hat man sich der Besteuerung der Reichen mit großer Vorsicht angenähert: Als der damalige Finanzminister Wilhelm Molterer 2007 die Besteuerung von Kursgewinnen bei Wertpapieren angehen wollte, hatte er beim mächtigen Wirtschaftsbund noch keine Chance. Nach der Wahl 2008 war das Thema dann ohnehin vergessen. Bis die SPÖ mit ihrer hartnäckig betriebenen Gerechtigkeitskampagne im Vorjahr den gesamten Komplex Vermögensbesteuerung wieder aufs Tapet brachte.

Da war angesichts der miesen Budgetlage der Widerstand erlahmt, der Wirtschaftsbund zog sich auf die Position zurück, dass Vermögenssubstanz nicht besteuert werden sollte. Von den Zuwächsen war keine Rede mehr - woraufhin die ÖVP mit der SPÖ die schlechtestmögliche Variante einer Wertpapierbesteuerung vereinbarte: Nun muss jeder Veräußerungsgewinn mit 25 Prozent versteuert werden, auch ein kurzfristiger Spekulationsgewinn, der bis dahin der vollen Progression unterlegen war.

Die Spekulanten darf das freuen. Der Mittelstand, der Wertpapiere für einen langfristigen Vermögensaufbau bis dahin steuerfrei sammeln konnte, wird geschoren - ausgerechnet von jener ÖVP, die seit den 50er- Jahren Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand gepredigt hatte.

Steuergerechtigkeit sieht anders aus. Das weiß man in der ÖVP auch, aber Vorstellungen davon lässt man lieber zuerst von der SPÖ entwickeln. Dazu kann man so schön Nein sagen. Dann kann man breit über den Schutz des Mittelstands diskutieren - in dem Wissen, dass wesentliche Steuerleistungen ohnehin nur von diesem hochgelobten Mittelstand kommen können. Und dann gibt die ÖVP wie üblich nach.

Wie eben jetzt beim Thema "Reichensteuer": Offenbar unter dem Eindruck der sozialdemokratischen Kampagnen in Ober- und Niederösterreich haben sich die Landeshauptleute Josef Pühringer und Erwin Pröll mit dem Gedanken angefreundet, bei den ganz hohen Einkommen einen Zuschlag einzuheben. Schon wird fleißig lizitiert: Während die oberösterreichische SPÖ eine Millionärssteuer fordert, könnte sich der schwarze Landeshauptmann damit anfreunden, einen Solidarbeitrag bereits bei einem Jahreseinkommen von einer Viertelmillion greifen zu lassen. Alles Verhandlungssache.

Denn: Es wird verhandelt werden, es werden neue steuerliche Belastungen kommen - das geben ÖVP-Politiker hinter vorgehaltener Hand zu. Und diese Belastungen werden genau jene Arbeitnehmer treffen, die man eigentlich zu entlasten versprochen hat. Ein Solidaritätszuschlag wird am Ende (und wie in Deutschland: gestaffelt) auch mittlere Einkommen erfassen. Das mag im Sinne des Koalitionspartners SPÖ sein - und man könnte sogar eine ehrliche Diskussion führen, ob das am Ende sogar gerecht ist.

Aber dazu müsste die ÖVP eigene, bürgerliche, christlich-soziale (oder wenn es sein muss: auch neoliberale) Vorstellungen von steuerlicher Gerechtigkeit entwickeln, vorstellen, diskutieren lassen. Das aber versäumt sie seit Jahren und zieht sich darauf zurück, dass Vermögen nicht angetastet werden dürfen. Das ist ein nettes Bekenntnis - aber es ersetzt kein konservatives Steuerkonzept.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.10.2011)

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