28.12.11

Die Realverfassung ist freilich anders

Preisfrage: Wie heißt der gewählte Bundeskanzler der Republik Österreich? Das weiß doch jedes Kind! Und jeder politisch interessierte Mensch meint auch zu wissen, dass Werner Faymann zum Kanzler gewählt wurde.

Stimmt aber nicht. Die Verfassung unserer Republik ist ganz anders strukturiert, als sie real gelebt wird. Da kandidieren Politiker bei der Nationalratswahl für einen Parlamentssitz, den sie in Wahrheit gar nicht einnehmen wollen, weil sie eher auf einen Sessel gegenüber, auf der Regierungsbank, streben. Aber dorthin werden sie - auf Vorschlag ihrer Partei - vom Bundespräsidenten gesetzt, nicht vom Parlament. Und schon gar nicht von den wahlberechtigten Bürgern.

Der Verfassungsrechtsprofessor Manfried Welan hat dieser Tage in einer Sammlung von Aphorismen und Assoziationen zur Verfassung auf das seltsame Verhältnis zwischen den Bürgern, ihren verbrieften Rechten und der gelebten politischen Kultur hingewiesen, die ihren republikanischen Charakter seit 1918 nicht recht finden konnte. Wie ein Wasserzeichen schimmere das Monarchistische durch die Verfassung: "Der Kanzler ist Aktivkönig, der Präsident Passivkönig." Das Recht geht zwar vom Volke aus, so steht es im Artikel 1 des BVG - aber kommt es dorthin auch zurück?

Nicht, wenn das Volk sich seiner Rechte nicht besinnt. Das ist schwer genug, wenn man die Enttäuschungen kennt, die aktive Unterstützer von Volksbegehren erlebt haben: So oft hat man schon für dieses oder jenes unterschrieben - herausgekommen ist selten etwas.

Einige wenige Politiker machen sich immerhin die Mühe, über eine stärkere Verankerung des direkt ausgedrückten Volkswillens in der politischen Praxis ernsthaft nachzudenken. Dabei bekommt man ohnehin rasch ein mulmiges Gefühl - wahrscheinlich ähnlich dem, das Hans Kelsen hatte, als er unter dem Eindruck des Umbruchs von 1918 das österreichische Bundesverfassungsgesetz entwarf. Und das auch ähnlich jenem Gefühl ist, das die Autoren des deutschen Grundgesetzes 1948 geleitet hat: Was, wenn die Volksmassen wieder einmal verführt werden - von Kommunisten, Nazis, Scharlatanen?

Die Verfassungen und die politische Praxis sind in Deutschland wie in Österreich eher darauf ausgelegt, den Rechtsstaat vor fehlgeleitetem Volkswillen zu schützen.

Da ist etwas dran: Grund- und Freiheitsrechte darf man keiner Mehrheitsentscheidung unterwerfen. Aber wenn es sich nicht um die Wiedereinführung der Todesstrafe oder die Streichung von (ohnehin schwach ausgeprägten) Rechten von Asylsuchenden handelt, kann man einer Bürgerpartei ruhig dieselben Rechte geben wie gewählten Abgeordneten: Wer eine gewisse Zahl von Unterstützern mobilisieren kann, sollte auch das Recht haben, einen parlamentarischen Antrag einzubringen und seine Behandlung zu erzwingen. Mehr noch: Einer Gruppe von - beispielsweise - 15 Prozent der Wahlberechtigten könnte man auch zubilligen, ein Veto-Referendum über ein schon beschlossenes Gesetz zu erzwingen.

Es ist der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer hoch anzurechnen, dass gerade sie als Parlamentarierin die direkte Demokratie fördern will. Darüber darf aber nicht vergessen werden, was für das politische Tagesgeschäft relevant ist: Dieses braucht offenere Parteien und selbstbewusstere Volksvertreter in den Parlamenten. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.12.2011)