30.12.05

Stammtische und Leuchtdioden

Der ländliche Raum droht zu verarmen - positiven Gegenbeispielen zum Trotz.
Wirtshaus und Schule, Greißler und Kirche sollte man in wenigen Minuten zu Fuß erreichen können. Amt und Gericht so, dass man am selben Tag wieder daheim sein kann, selbst wenn einem als Transportmittel nur ein Ochsenkarren zur Verfügung steht. Nach diesen Grundsätzen wurde im 19. Jahrhundert Regionalplanung betrieben.
Und diese Maßstäbe prägen noch heute weit gehend die Vorstellungen von Heimatgefühl und Regionalverbundenheit, selbst wenn der durchschnittliche Österreicher heute eher selten zur Kirche geht und im Schnitt auch weniger Kinder als früher zur Schule zu schicken hat.
In weiten Teilen Österreichs stimmt es in dieser Hinsicht schon lange nicht mehr. Und die Prognosen deuten darauf hin, dass man außerhalb zentraler Bezirksstädte noch weitere Wege zum Stammtisch in Kauf wird nehmen müssen - und weil sich Stammtischkultur und Autofahren gegenseitig ausschließen, dreht sich die Spirale weiter. Wo es weniger Stammtische gibt, gibt es weniger Gemeinschaft.
Was für die Wirtshäuser und ihre Besucher gilt, gilt ebenso für die Bezirksgerichte: Werden sie geschlossen, müssen sich die Bürger eben in die nächst größere Stadt wenden - und weil es in den kleinen Städten keinen Bedarf mehr für Anwälte und Notare gibt, übersiedeln die in die zentraleren Städte. Die relativ besser gebildete und relativ besser verdienende Schicht dünnt aus - zurück bleiben ältere Menschen, oft mit niedrigem Einkommen und hohem Pflegebedarf sowie ein ebenfalls ausdünnender und im Schnitt immer schlechter verdienender Bauernstand.
Keine rosige Ausgangslage für die Regionalpolitik - und vielleicht auch eine Erklärung dafür, dass Regionalpolitik als solche kaum betrieben wird. Wer wäre denn eigentlich zuständig dafür?
Der Landwirtschaftsminister, der ständig den ländlichen Raum als Ideal preist?
Der Infrastrukturminister, der gerne bei der Bundesbahn sparen will - wobei der als unrentabel geltende Verkehr in den dünn besiedelten Regionen natürlich besondere Aufmerksamkeit der Rationalisierer auf sich zieht? Die Gesundheitsministerin, die mit demselben Rationalisierungsargument Spitäler zur Schwerpunktbildung drängt? Die Bildungsministerin, der bewusst sein muss, dass Kleinstschulen pro Schüler meist teurer (und nicht notwendigerweise besser) sind als städtische Schulzentren? Der Wirtschafts- oder der Finanzminister?
Oder gar der alles irgendwie koordinierende Kanzler?
In allen Ressorts gäbe es Ansätze - aber außer in Wahl-und Sonntagsreden, die sich ja auch an die im ländlichen Raum verbliebenen Bevölkerungsteile richten, ist nicht viel zu gewinnen mit der Regionalpolitik. Weshalb die Menschen in den peripheren Regionen auf sich allein gestellt sind. Sie vollbringen dennoch Beachtliches: Zwar wird die Entvölkerung agrarischer Regionen und zunehmend auch die alter Industriereviere weitergehen - aber gerade dort sind auch die Beispiele von weit gehend energieautarken Gemeinden, mehr oder weniger "sanften" Tourismusprojekten und von hochspezialisierten gewerblichen und industriellen Produktionen daheim.
Weder die hochpreisige Zotter-Schokolade noch die hocheffizienten Leuchtdioden von Tridonic kommen aus urbanen Zentren, sondern aus den ländlichen Gemeinden Riegersburg und Jennersdorf.
Mit den Hinweisen darauf (sie kommen besonders oft von ÖVP-Politikern) kann allerdings nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass die Regionen mit schrumpfender Bevölkerung eine besondere Hilfestellung brauchen, wenn es um soziale Probleme geht - und zwar jetzt, bevor sich dort aufgrund der Überalterung Armut verfestigt.
Und es bedarf eines Umdenkens der Planer: Wo im Zweifelsfall der Autofahrer - dem noch ein paar zusätzliche Kilometer zum Amt und zum Einkaufszentrum zugemutet werden können - als Norm gilt, ist das menschliche Maß bereits verloren gegangen.

27.12.05

Die Dienstboten-Gesellschaft

In Österreich gilt der Dienstleistungsscheck als Sanierungsrezept für die oft illegalen Beschäftigungsverhältnisse von Haushaltshilfen und anderen "Perlen" - in Deutschland wird so getan, als ob die Arbeitsgesellschaft dadurch zu retten wäre, dass einer dem anderen die Haare schneidet...
Für den Standard habe ich die aktuelle Diskussion aufgegriffen und gewarnt: "In einer Dienstboten-Gesellschaft verarmen auch die vermeintlich Wohlhabenden" - hier mein Kommentar:

"Wie war zu Köln es doch vordem / Mit Heinzelmännchen so bequem!" Und nicht nur zu Köln, wie es der deutsche Romantiker August Kopisch in seiner Ballade beschrieben hat: Wo die märchenhaften Kölner Heinzelmännchen nicht zur Hand waren, da gab es im 19. Jahrhundert böhmische Köchinnen, ruthenische Hausknechte, schlesische Dienstmädchen, italienische Kellner und heimische Tagelöhner, die für wenig Geld besorgten, wofür sich die feinen Leute selbst zu gut waren.

Es ist dieses Gesellschaftsbild, das uns noch immer vorschwebt, wenn wir von Luxus träumen: Wer sprichwörtlich hinten und vorne bedient wird, der braucht weder Ferrari noch Rolex - und für viele ist zumindest für ein paar Urlaubstage der Wunsch nach perfektem Service erfüllbar.

Die Tourismusindustrie der gehobenen Kategorie macht es uns vor - und diesen Standard hätten die Gäste gerne in jedem Lokal ("in Amerika funktioniert das doch auch!") und die Konsumenten in jedem Supermarkt ("Freundlichkeit darf ich mir ja wohl auch beim Discounter erwarten!"). Kosten soll es halt, bittschön, am liebsten gar nichts.

Das funktioniert, wenn überhaupt, nur in einer Gesellschaft, in der Sklaverei zulässig ist. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass sich manche genau solche Zustände wünschen: Eine wohlhabende Oberschicht und viele dienstbare Geister, auf deren Rechte und Ansprüche nicht sonderlich Rücksicht genommen werden muss.

Ja, freilich: Da gibt es Service vom Feinsten. Und zwar zu Löhnen, die in manchen Extrembeispielen aus der Dritten Welt weit unter den Kosten für die Sicherheitseinrichtungen zum Schutz der Reichenviertel liegen. Dabei sind die augenfälligen Kosten für die Verteidigung der Privilegien der Bewohner der "Gated Communities" nicht einmal der größte Negativeffekt solcher sozialen Ungleichheiten.

Viel schwerer ins Gewicht fällt der Umstand, dass billige persönliche Dienste extrem innovationsfeindlich wirken: Wo eine Haussklavin quasi umsonst - genauer: zu nicht voll eingerechneten Kosten - den Boden scheuert, lohnt es nicht, in die Entwicklung eines Staubsaugers zu investieren. Sklavenhalter investieren nicht in den technischen Fortschritt. Die gesamte wirtschaftliche Entwicklung stagniert - und auch die vermeintlich Wohlhabenden verarmen mit der Zeit.

Tatsächlich leben wir ja derzeit ganz gut davon, dass es insgesamt weniger Service gibt als vor 100 Jahren: Wo Wäschermädeln durch Waschmaschinen ersetzt werden, wird Arbeitskraft für eine anspruchsvollere Arbeit als jene an der Waschrumpel frei.

Und die Wohlhabenden legen ihr Geld ertragreicher an als im eigenen Haushalt. Wobei sich die Komfortverluste in der Regel in Grenzen halten. Natürlich ist es noch bequemer, sowohl Putzfrau als auch Staubsauger, sowohl Hausknecht als auch Rasenmäher einsetzen zu können.

Diesem Wunsch kommt der Dienstleistungsscheck entgegen, der ab kommender Woche eingeführt wird - nach Ansicht des Wirtschaftsministeriums einfach eine Möglichkeit, ohnehin bestehende Arbeitsverhältnisse aus der rechtlichen Grauzone zu holen.

Wenn man aber mit bedenkt, dass auch die deutsche Regierung persönliche Dienste in Haushalten fördern will, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, so ergibt sich ein anderes Bild: Es zeigt massive Tendenzen, von der Dienstleistungs- zur Dienstboten-Gesellschaft überzugehen. Zu einer Gesellschaft, vor deren Ungleichgewicht bereits der Berliner Soziologe Hartmut Häußermann warnt.

Denn die auf Dienstboten abgestützte Gesellschaft leistet sich, dass oben eine Schicht ordentlich Beschäftigter mit ordentlichem Einkommen und ordentlicher sozialer Sicherheit lebt, während darunter Servicekräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen in eine strukturell bedingte Armut abgleiten. Eine üble Perspektive auch für Arbeitsmigranten aus östlichen EU-Staaten. Auf solche Heinzelmännchen-Dienste zu bauen ist unter dem Strich zu teuer.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.12.2005)