19.10.05

Aussteigen wär' schön, aber...

Nicht einmal drei Prozent der ursprünglich geschätzten 15.000 Angehörigen, die einen schwer kranken oder womöglich todkranken Verwandten daheim haben, nehmen ihr Recht auf Familienhospizkarenz in Anspruch. Das mag sich mit den finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen erklären lassen - diese zu verbessern wurde im Ministerrat beschlossen. Helfen wird es allerdings wenig.
Denn das Problem liegt tiefer: Die meisten Arbeitnehmer scheuen sich, ihren Arbeitsplatz für längere Zeit zu verlassen - schließlich könnte es sein, dass der Sessel besetzt ist, wenn man länger als auf eine Mittagspause weggeht. Dabei zeigt sich in vielen Unternehmen, dass - gesetzwidrig - selbst die Mittagspause durchgearbeitet wird - unbezahlt, natürlich.
Der Trend ist offenkundig: Statt ihre Rechte auf unbezahlte Nichtarbeit zu nutzen, leisten viele österreichische Arbeitnehmer im Gegenteil sogar unbezahlte Überstunden. Für etliche ist Fieber kein Grund mehr, daheim zu bleiben. Andere schenken dem Unternehmen nicht in Anspruch genommene Urlaubstage. Karenzzeiten - nicht nur zur Pflege, sondern auch jene, die kollektivvertraglich für Bildung oder gar für Erholung vorgesehen sind - werden nur sparsamst in Anspruch genommen. Man weiß ja nicht, ob man wirklich dorthin zurückkann, wo von Rechts wegen der Arbeitsplatz erhalten bleiben sollte. Oder ob man nach einer Karenzierung wieder von unten anfangen muss.
Erst wenn Karenzzeiten auch in der Praxis kein Karrierehindernis mehr darstellen, werden sie auch in Anspruch genommen werden. Das aber ist eine Frage der Kultur unserer Arbeitswelt. Sie zu verbessern, würde vor allem auch jungen Familien helfen, in denen Kinderwünsche (trotz Kinderbetreuungsgeld) immer noch der Karriere halber zurückgestellt werden.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2005)