Medizin der zwei Klassen
Niemand wird gerne krank – aber viele der Krankheiten, die noch vor ein, zwei Generationen ein ziemlich sicheres Todesurteil bedeutet haben, haben ihre Schrecken verloren. Mehr noch: An die Stelle von Leiden und Siechtum sind vielfach Therapien getreten, die die Lebensqualität der Kranken und Behinderten weit gehend verbessert haben – rund neun von zehn Therapien haben nicht den unmittelbaren Zweck, Leben zu retten, sondern ein Leben mit weniger Schmerzen und geringerer Behinderung zu ermöglichen.
Das ist natürlich kein Trost für jene, die an einer als schwer heilbar geltenden Krankheit mit ungünstiger Prognose leiden – oder die auf einen Therapieplatz warten, weil der nächst verfügbare Operationstermin erst in mehreren Monaten, in Extremfällen sogar erst in mehreren Jahren liegt. Ja, für einige dieser Krankheiten gäbe es möglicherweise Therapiemöglichkeiten. Nein, hier und heute stehen sie nicht zur Verfügung. Womöglich deshalb, weil die vielleicht rettende Therapie zwar zu haben wäre, aber schlicht zu teuer ist.
Die Schlagzeilen, dass Geldmangel am Wiener AKH verhindert, neue, aber extrem teure Medikamente in der Krebstherapie einzusetzen, werden diejenigen, die sich verzweifelt an die Hoffnung neuer Therapien klammern, weiter verunsichert haben: Sind wir es nicht wert, dass man uns mit den neuesten und besten Methoden hilft? Die Verantwortlichen haben sich natürlich mit der Versicherung beeilt, dass das keineswegs so wäre und dass ohnehin jeder das Bestverfügbare bekomme.
Die Kosten steigen
Selbst wenn man das für hier und heute glaubt, so hat man doch Anlass, daran zu zweifeln, dass das immer so bleibt. Es ist nämlich so: Die medizinische Forschung macht weitere Fortschritte – und die Kosten steigen gerade dort, wo für eine verhältnismäßig kleine Zahl von Betroffenen eine immer speziellere Behandlung notwendig wird.
Kann man jedem Patienten jede denkbare Verbesserung seiner Situation bieten? Das zumindest entspricht dem österreichischen Verständnis von einem Sozialstaat – wer Hilfe braucht, soll sie auch bekommen. Das ist ein Zugang, der sich an Menschenwürde und nicht an Ökonomie orientiert. Ethisch führt kein Weg daran vorbei, auch Menschen über 90 noch teure Behandlungen zu verpassen – auch wenn die statistische Erwartung, wie lange sie davon wohl etwas haben werden, einen sehr geringen „Kosten-Nutzen- Effekt“ ergibt.
Was aber, wenn die Ressourcen knapp sind? Natürlich wäre da der 65-jährige Patient dem 90-jährigen vorzuziehen und erst recht der auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft stehende 30-jährige. In der Militärmedizin wird triagiert, wenn nicht allen geholfen werden kann – man hilft jenen, die die besten Chancen haben, dass die Therapie wirkt – und stellt die anderen ruhig oder nimmt in Kauf, dass sie nicht überleben. So geht es eben in der Ausnahmesituation des Feldlazaretts zu – aber es gibt schon Länder, in denen ähnliche Methoden auch im medizinischen Alltag angewendet werden.
Triage im Alltag
Wer alt ist, sich nicht wehren kann und womöglich auch kein Geld hat, hat eben Pech gehabt. Nicht nur, wenn er das Pech hat, in Dritte-Welt-Ländern zu leben oder zu den Armen der USA zu gehören – auch in Europa ist es schon so weit: Schätzungsweise 80 Prozent der deutschen Schizophreniepatienten, denen mit Medikamenten geholfen werden könnte, bekommen diese einfach nicht. Und im staatlichen britischen Gesundheitssystem wird bei Therapien darauf geschaut, ob sich die für den jeweiligen Patienten wirklich „lohnen“.
Schleichend kommen solche Tendenzen auch nach Österreich – und wo Knappheit herrscht, treten die beschriebenen Effekte dann von selbst ein: Die in Sonntagsreden abgelehnte „Zweiklassenmedizin“ kommt durch die Hintertür, wenn Knappheit an Therapieplätzen oder teuren Medikamenten herrscht. Ohne zusätzliches Geld wird sie sich ausbreiten. (DER STANDARD Printausgabe, 11.08.2005)
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