18.1.05

Verlorene Deutungsmacht

Mein Kommentar im Standard zur Austrittswelle, die die Katholische Kirche Österreihs 2004 erlebt hat: Sex-Skandale haben Kirchenaustritte ausgelöst, die innerlich längst vollzogen waren

Es ist noch nicht gar so lange her, da haben sich die Österreicher vor dem Teufel, seinen finsteren Machenschaften und Verführungen gefürchtet - sowie vor ewiger Verdammnis, wenn sie vom rechten Weg abkommend in die Hölle kämen, statt nach dem Tod im Jenseits ein besseres Leben im Himmel genießen zu können.

Teufel? Verdammnis? Himmel und Hölle? Es fällt schwer, heute solche Begriffe überhaupt ernst zu nehmen. Oder sich gar den Herrgott vorzustellen, wie er sitzt, "zu richten die Lebenden und die Toten". Allenfalls als kirchliches Kunstwerk ist das anschaulich - aber hat noch jemand eine Vorstellung davon, was eigentlich "Sünde" ist, was eine Strafe jenseits des Strafrechts sein könnte?

Nein, darüber gebe es keine Erhebungen, sagen Marktforscher, die sonst jedem Trend nachzuspüren bereit sind. - Gott ist kein Thema, die Strafe dafür, dass man von ihm abfällt, schon gar nicht.

Sonst würden auch nicht so viele Menschen die Kirche verlassen.

Freilich: Die katholische Kirche hat es den Österreichern auch besonders leicht gemacht, eine Ausrede zu finden, ihr den Rücken zu kehren. Da war erst die jahrzehntelange Führung durch Kardinal Franz König, der für Verständnis und Verständigung sorgte - dabei aber vielfach gründlich missverstanden wurde: Viele Menschen haben Königs Verständnis für die gesellschaftlichen Entwicklungen als Zustimmung zur Beliebigkeit interpretiert. Soll doch jeder nach seiner Fasson selig werden - und sich seinen Gott, seine Vorstellung von Gut und Böse, vom Jenseits und von seiner Kirche selber aus seinem Baukasten zusammensetzen.

Das passierte nicht von heute auf morgen, das führte noch nicht zu Austrittswellen - auch wenn die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr des groß mit Papstbesuch gefeierten Katholikentages 1983 mit weit mehr als 33.000 auch schon beachtlich war.

Es kam aber noch schlimmer: Gerade weil in den Achtzigerjahren ein neuer, fundamentalistisch angehauchter und von Marienverehrung geprägter Wind durch die Kirchen wehte, nahm die Verwirrung zu. Groër und Krenn passten so gar nicht zu dem freundlichen, aber harmlosen Bild, das die katholische Kirche Österreichs von sich gezeichnet hatte: Plötzlich wurde wieder daran erinnert, dass Sakramente und Gottesdienstbesuch zum kirchlichen Leben gehören; Gehorsam wurde eingefordert, vor allem von jenen Gutwilligen, die an einem moderneren Kirchenverständnis aktiv mitarbeiteten.

Nun ist die katholische Kirche ja nicht gerade als demokratisches Schulbeispiel konzipiert - aber das Unverständnis, mit dem die Kirchenführung gerade den engagiertesten Kirchenmitgliedern gegenübergetreten ist, hat viele von der Kirche entfremdet.

Die Sex-Skandale haben dann für viele so genannte Taufschein-Katholiken bloß den letzten Anstoß dafür gegeben, eine Bindung zu lösen, die im Herzen schon längst nicht mehr bestanden hat. Geschweige denn in der Seele, an die (und an deren ewiges Leben) zu glauben man irgendwann im Lauf der Jahre aufgehört hat.

Da liegt das eigentliche Problem der Kirchen - nicht nur, aber eben vor allem der römisch-katholischen Kirche: Die Menschen haben den Glauben verloren. Den Glauben aber verliert man nicht wegen der so genannten "Bubenstreiche" in einem Priesterseminar, auch nicht wegen der dümmlichen Verharmlosung der Zustände dort.

Es geht um viel mehr: Die Führung der Kirche, die sich offenbar so schwer tut, über die eigene Anfälligkeit zur Sünde zu sprechen, hat auch die Fähigkeit verloren, die Frohe Botschaft zu verkünden. Dabei gibt es immer noch Millionen Mitglieder der Kirche in Österreich - von denen aber nur mehr eine verschwindende Minderheit die Messe besucht und die Sakramente empfängt. Wir fürchten den Teufel so wenig, wie wir die Erlösung im Jenseits erhoffen: Die Kirche hat einfach die Deutungsmacht über die Sehnsüchte ihrer Gefolgschaft verloren.
(Erstveröffetlichung in: DER STANDARD, 19.1.2005)