31.1.06

Alle werben um den Mittelstand, aber wer ist das eigentlich?

"Mittelstand" ist das politische Modewort der Wahlkampfsaison. Doch was die Parteien darunter verstehen, ist äußerst unterschiedlich.
"Der Mittelstand?" BZÖ-Sprecher Kurt Scheuch muss kurz überlegen. "Mittelstand ist eigentlich das falsche Wort. Besser ist: die Fleißigen." Und unter "die Fleißigen", wie er sie nennt, fallen nach seiner Definition alle, die 1500 bis 5500 Euro brutto im Monat verdienen. Sein schwarzes Vis-à-Vis, Finanzsprecher Günter Stummvoll, sieht das anders. Für ihn, nach eigenen Angaben Mitglied in der "Mittelstandspartei ÖVP", gehört man von 2500 bis 7000 Euro dazu. Alle anderen sind "Spitzenverdiener" (Stummvoll). Was der Mittelstand genau ist, wo er anfängt und endet, ist nicht nur bei den Regierungsparteien, sondern auch bei der Opposition eine Frage des Standpunktes.
Die SPÖ etwa unterscheidet zwischen "normalem" und "gehobenem" Mittelstand. Zu Ersterem zählt sie Einkommen zwischen 2000 und 4000 Euro, wer zwischen 4000 und 6000 Euro verdient, ist Zweiteres. "Das ist die breite Mehrheit, die alle öffentlichen Leistungen finanziert", meint SPÖ-Budgetsprecher Christoph Matznetter.
"Wahlkampf-Schattenboxerei", nennt das der Grüne Budgetsprecher Werner Kogler, "alle reden vom Mittelstand aber niemand kann sagen, was er wirklich ist." Eine Definition haben die Grünen dennoch: Alle, die zwischen 3500 und 4500 Euro verdienen, leiden besonders unter Steuern und Abgaben - und sind daher entlastungswürdig, ergo: Mittelstand.
Wer eigentlich den Mittelstand bildet, war schon strittig, als der Begriff Ende des 18. Jahrhunderts aufkam. Gotthold Ephraim Lessing war der erste, der nicht nur über "Regenten und hohe Standespersonen" dichten wollte, sondern "Helden aus dem Mittelstande" suchte. Johann Wolfgang von Goethe schrieb vom "hübschen, wohlhabenden Mittelstand" und Friedrich Schiller sah gar "im wohltätigen Mittelstande den Schöpfer unserer ganzen Kultur, in dem ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreife." 1815 definierte Johann Christoph Schlosser in seiner Weltgeschichte: "Hiezu gehören Bewohner kleiner Städte, alle Beamten und Unterbeamten daselbst, Handelsleute, Fabrikanten, vorzüglich Frauen und Töchter solcher Familien, auch Landgeistliche, so weit sie Erzieher sind."
Nicht mittellos, aber auch nicht wohlhabend - so sah sich der Mittelstand Anfang des 19. Jahrhunderts. Heute ist das nicht anders: "Natürlich definiert sich Mittelstand über das Einkommen, aber im Selbstbild sieht sich der Großteil der Österreicher als Mittelstand, vom Arbeiter bis hin zu denen, die sehr gut verdienen. Man müsste eher fragen: Wer ist nicht Mittelstand?", sagt David Pfarrhofer vom Linzer market-Institut. Niemand wolle sich selber als arm oder reich definieren und so landen alle irgendwo in einer breiten Mitte.
Mit deutlichen Unterschieden. Selbst die "Mittelstandspartei" ÖVP definierte ihn jeweils aus der Perspektive ihrer Bünde: Einen "leistungsfähigen Mittelstand" wünschte sich nach dem Krieg vor allem der Wirtschaftsbund, der das Gros seiner Mitglieder aus Handel und Gewerbe rekrutierte, weil die Gruppe der Industriellen in Österreich ein zu geringes Reservoir für eine Parteiorganisation bildet. "Österreich lebt vom Mittelstand - lasst den Mittelstand leben", plakatierte der Wirtschaftsbund Mitte der siebziger Jahre.
Der VP-Arbeitnehmerflügel ÖAAB setzte dagegen: Er reklamierte erst die leitenden Angestellten, dann alle Angestellten und heute alle Arbeitnehmer in die Mittelstandspolitik hinein. Damit kommt er der roten Vorstellung der "mittleren Stände" sehr nahe.
Denn für Matznetter ist der Mittelstand jene Schicht, die durch den Aufstieg des Proletariats entstanden ist. "Schon Bruno Kreisky hat den Mittelstand entdeckt, 1998 schrieben wir ihn in unser Parteiprogramm", meint er stolz. "Das ist alles sehr durchsichtig. Die SPÖ entdeckt den Mittelstand nur, weil ihr das Proletariat als politische Zielgruppe abhanden gekommen ist", ätzt Stummvoll. Von wegen, entgegnet Matznetter: "Schon Viktor Adler war freischaffender Arzt - also ein echter Mittelständler."
(Conrad Seidl, Barbara Tóth, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.1.2006)